Kulturschock


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South America » Brazil » Bahia » Salvador
January 20th 2010
Published: January 24th 2010
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Montag und Freitag ist Muellabfuhr. Es ist unvorstellbar, wie beissend es an diesen Tagen in den Strassen stinkt. Abfallsaecke (bzw. mit Abfall gefuellte Einkaufstaschen) liegen zu Bergen auf den Strassen und braten in der Hitze bis dann irgendwann mal am Nachmittag (vielleicht) die Abfuhr kommt.
Mit dem Toilettenpapier ist das auch so eine Sache. Das darf man naemlich generell nicht in die Schuesel werfen sondern deponiert es, unabhaengig vom Zustand, in kleine Abfalleimer. Diese wiederum haben nicht immer einen Deckel und schon gar nicht immer ein Fusspedal, mit welchem man den (falls vorhandenen) Deckel oeffnen koennte. So muss man versuchen, das Papierknaeuel in den Eimer zu bekommen, bestenfalls ohne den Eimer zu beruehren, denn bedenkt man, was den Eimer schon alles gestreift hat, scheint es einem doch leicht ecklig. Und da ich mich zu Beginn meines Aufenthalts dessen nicht neigen wollte und zu Hause das Papier doch in die Schuessel warf, mit der Annahme, dass das wohl nicht so schlimm sein kann, verstopfte sogleich das WC und ich musste los, einen Saugnapfpuempel kaufen (was mit meinem Basis-Portugiesisch ein weiteres Unterfangen war). Und da mir seither aus reiner Gewohnheit das Toilettenpapier noch mindestens etwa 5 Mal in die Schuessel gefallen ist, bin ich jetzt wenig freiwillig zum Profi-WC-Entstopfer geworden. Soll man einer versuchen, es sich abzugewoehnen, das Toilettenpapier in die Schuessel zu werfen. Und “Toilettenpapier” ist hier woertlich zu verstehen, nichts mit Charmin oder Hakle sondern eine Mischung zwischen Kuechenpapier und Schreibpapier. Auch sehr angenehm…
Haushaltsgegenstaende sind hier sowieso meist sehr unpraktisch, wenn nicht sogar teilweise inexistent. So etwas wie einen Kartoffelschaeler zum Beispiel gibt es hier schlicht und einfach nicht und ist auch voellig unbekannt. Geschaelt wird mit der Rueckseite des Brotmessers (?!). Und es ist auch sehr fragwuerdig, wieso es keine Wasserkocher gibt (es gibt sie wirklich nicht!!). Wenn Wasser gekocht werden muss, tut man dies traditionell mit Feuer, was etwas 15 Minuten dauert bis das kuehle Wasser mal heiss ist (heiss und kalt beim Wasserhahnen gibt es uebrigens auch nicht). Mir wurde erklaert, dass der Grund fuer diese eher spaerlichen Kuechenausstattungen darin liegt, dass jede mehr oder weniger nicht arme Familie hier eine Maid hat, also ein Dienstmaedchen und da die sowieso alles machen und dann erst noch zum Mindestlohn von 500 Reais (ca. 270 Franken) im Monat, brauchen sie schliesslich nicht auch noch praktische Werkzeuge. Die Maids hier, natuerlich ausschliesslich Schwarze, putzen ihren Bediensteten auch wirklich alles hinterher, es ist um Schreien! Es wird alles, aber wirklich auch alles stehengelassen. Es fiel mir fast schon schwer, mich derart dekadent bediensten zu lassen. Es geht gar soweit, dass die brasilianischen Kinder sich mit 8 Jahren immer noch nicht selber anziehen koennen und es meist im Chaos endet, wenn sie von zu Hause ausziehen und sie sich dann notgedrungen halt auch eine Maid besorgen muessen.
Sooooo. Und daaaaan ist hiiiiiier aaaaaalleeeeeeees seeeeeeehr, seeeeeehr langsaaaaaam. Diese Langsamkeit treibt mich, wo ich doch gelernt habe, in meoglichst kurzer Zeit moeglichst produktiv zu sein und alles schnellsmoeglich zu erledigen, fast in den Wahnsinn! Diese Engelsgeduld die man bei fast jeder Interaktion hier braucht, ist geradezu unmenschlich! Im Vergleich zu schweizer Bekannten, bin ich ja nicht gerade eine Schnellgeherin, doch es ist hier noch nie vorgekommen, dass ich auf dem Schulweg oder bei sonstigem Gehen die anderen Passanten nicht ueberholt habe. Es ist mir ein Raetsel, mit welcher Gemuetlichkeit die Brasilianer beim morgentlichen Weg zur Arbeit durch die Strassen spatzieren. Und wenn ich sie ueberhole, schauen sie mich an als ob waere ich von einer Tarantel gestochen worden!
Was mich auch jedes Mal fast zur Weissglut treibt ist das Bezahlen. Angenommen ich kaufe einen Kaugummi fuer 2 Reais und ein Dushgel fuer 5 Reais. Das wird dann erst mal im Rechner eingetippt (immer). Bis die Verkaeuferin dann endlich einmal das Rueckgeld zusammen hat vergeht wieder eine halbe Ewigkeit. Doch das Schlimmste ist, dass sie dann das Rueckgeld in der Hand halten und es einem einfach nicht geben wollen. Stattdessen quatschen sie mit irgend jemandem oder spielen Hans kuck in die Luft. Genervt und mit vollstem Unverstaendnis versuche ich zu verstehen zu geben, dass sie mir doch bitte, bitte das Reuckgeld aushaendigen sollen und es reizt mich jedes Mal, ihnen das Geld einfach aus der Hand zu reissen. Aber gut, das Gras waechst auch nicht schneller, wenn man daran zieht…
Was auch gar nicht geht, ist mit einer 50er Note bezaheln (ca. 30 Franken), was einem zum Problem wird, denn aus den Bankomaten kommen meist nur 50er oder 100er Scheine. Mein Gott, bei den schweizaehnlichen Preisen hier (!!) ist doch das gar nicht so viel! Doch kaum haendigt man die Note aus, wird man mit boesen Blicken angeschaut und es wird nur angenommen, wenn man es auch sicher nicht kleiner hat. Dann muss jedoch zuerst Wechselgeld vom Geschaeft nebenan organsiert werden und ich durte gestern etwa 10 Minuten auf mein Reuckgeld warten und das alles, fuer ein Flaeschchen Cola. Man denke jedoch nicht daran, es sein zu lassen, denn das wuerde alles nur noch mehr verkomplizieren. Ich nehme mir jedoch so gut es geht vor, mich der Kultur hier anzupassen und versuche, im Schneckenrhythmus mitzuleben.
Tragisch strapazierend ist auch die weitverbreitete Denkunlust. Ich hoffe sehr, dass den Menschen hier vieles einfach egal ist, ansonsten ist es wirklich himmeltraurig! Aufgrund meiner Milchallergie habe ich zum Beispiel brav gelernt, wie man fragt, ob etwas Milch oder ein Derivat von Milch enthaelt. Mir wurde also bei meinem ersten Sandwich versichert, dass es nichts mit Milch enthaelt. Ich versicherte mich noch einmal und freute mich auf ein feines Sandwich. Als ich reinbiss, bemerkte ich sogleich den Geschmack von Kaese. Grrrrr... Genervt ging ich zur Theke zurueck und sagte, dass da Kaese drin sei. Der Mann antwortete mir, dass es ja nur Kaese sei und keine Milch. Doppelt grrrrrr… Solche hirnverbrannten Vorfaelle sind an der Tagesordung und fordern einem betreffend Naechstenliebe stark heraus. Zum Schutz aller Brasilianer muss jedoch erwaehnt werden, obwohl es eigentlich selbstverstaendlich ist, dass solche Zustanede einem das totale Versagen des Systems vor Augen fuehren und es macht einen wirklich sauer. Die Politiker hier schwimmen im Reichtum und brigen es nicht einmal auf die Reihe, ein Minimum an Schul- und Allgemeinbildung zu bieten. Weiter ist entscheidend, dass ich Menschen fast ausschliesslich auf den Strasse begegne und so abschaetzend es klingen mag, ist es doch eine Tatsache, dass man auf den Strassen nur Menschen der Unterschicht begegnet. Leute mit Geld bewegen sich nicht auf den Strassen, nie, sondern sie fahren mit ihren Autos von Ziel zu Ziel. Eingekauft wird nur in den voellig ueberteuerten, gigantischen Einkaufszentren, wo sich die Reichen in Scharen tummeln. Aufgetackelt und protzig kaufen sie masslos ueberteurte Ware, scheinbar um sich deutlich von der Unterschicht abzuheben. So etwas wie ein Mittelmass gibt es hier partout nicht. Man ist entweder arm oder reich, gebildet oder ungebildet, schwarz oder weiss, Preise sind entweder extrem tief oder extreme hoch und Orte sind entweder wunderschoen oder dreckverschmutzt. Und da die Reichen sich (verstaendlicherweise) von dieser Misere immer mehr entfernen und abeheben wollen, wird die Kluft immer grosser und ich frage mich, ob es fuer die gottverlassenen Menschen hier noch Hoffnung gibt.


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