alltaeglicher Wahnsinn


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South America
November 17th 2009
Published: November 17th 2009
Edit Blog Post

16.11.2009
02:50




Dinner for Millions…


So langsam frage ich mich, ob wir nicht ungefragt Teil eines kleinen Experimentes sind oder ob vielleicht der Regenwald ringsherum aehnlich wie in der Truman-Show einen Teil einer Kulisse darstellt, hinter der sich eine Nation von Zuschauern ueber uns lustig macht:
Setze eine Handvoll vom Leben mehr oder weniger verwoehnte Westeuropaer in ein paar von Termiten zerfressenen Holzhuetten im Dschungel aus und beobachte, wie sich der Wahnsinn nach und nach ihrer Sinne bemaechtigt und die Steuerung ueber ihr Verhalten uebernimmt...

Rueckkehr aus Baños in die Wildnis:
Wir erfahren kurzfristig, dass die Koechin frei hat und morgen wegen eines Feiertags auch wir anderen. Heisst: Selbst kochen ist angesagt. Und kurz darauf finde ich mich bei Kerzenschein am Esstisch unter dem Vordach sitzend wieder, um mich herum in der Dunkelheit summen und surren und zirpen und fiepen und quaken Abermillionen von Insekten und Amphibien, unter einem Glas neben mir hockt ein Skorpion, den wir auf diese Weise dingfest gemacht haben, aus einem weiteren Glas trinke ich ein barbarisches, stark alkoholisches Gebraeu namens „25“, in dem braeunliche Pflanzenteile schwimmen, und schaele Kartoffeln.
Zwischendurch proste ich mit dem „25“ dem Skorpion zu und ertappe mich dabei, wie ich beginne, mit ihm - oder doch mit mir selbst? - zu reden.
„Von dieser Szene haette ich gern eine DVD“, sage ich zu dem Skorpion. „Das glaubt mir sonst niemand.“

Eine Stunde spaeter: Das Essen ist fertig. Gott sei Dank ist niemand von uns Vegetarier, denn spaetestens wenn die Toepfe auf dem Tisch stehen, enthalten sie tierisches Protein. Der Strom funktioniert heute ausnahmsweise mal, wir verzichten trotzdem auf Licht, da die Kerzen nicht ganz so viele Insekten anziehen wie die Deckenlampen. Trotzdem muss jede Gabel Salat inspiziert werden, bevor man sie zum Munde fuehrt, und nach den drei erholsamen Tagen in den kuehleren Bergen faellt es mir erstmal wieder schwer, mich hier erneut auf Klima und Fauna einzulassen. Ich ziehe ein mir bis dato unbekanntes Flugobjekt am Fuehler aus dem Spiegelei und platze:
„Das nervt! Noch vier Wochen - dann fahre ich ins Hochland und komme nie wieder runter!“
Nach dem Essen habe ich meine Fassung wiedergefunden, dafuer erwischt es nun Chris, der mit einem fieberhaften Leuchten in den Augen beginnt, mit der Gabel die auf seinem Teller gelandeten Kaefer und Spinnen zu einem Haufen zusammenzuschieben, und dann zu den Gewuerzen greift:
„Jetzt gibts Coleoptera-Ragout. Ein bisschen Salz, ein bisschen Pfeffer, etwas Oregano - wo ist denn der Thymian?“ Er vermengt die Zutaten sorgfaeltig, bietet mir eine Gabel davon an und zugleich 150 Euro als Belohnung, wenn ich seine kulinarische Kreation probiere. „Ach weisst Du“, sage ich zweifelnd, „wenn das Stueck Chili ja nicht drin waere...“
Daneben sitzt Stephan, kopfschuettelnd, aber seinerseits in Verteidigungshaltung, bewaffnet mit dem grossen Kuechenmesser, mit dem er gelegentlich energisch herumfuchtelt. Chris fischt einen Kaefer aus seinem „25“, der sich ein paar Minuten lang neben dem Artgenossen -Ragout erholt, bevor er beginnt, offensichtlich sturzbetrunken ueber den Teller zu wanken. Und Chris dreht sich um und ruft mit einer Spur von Verzweiflung in seiner Stimme in die uns umgebende Finsternis:
„Ich will nach Deutschland!“

Beim Aufraeumen krallt sich eine Spinne an meinem Daumen fest, die von mir unbemerkt an der Schuessel mit den Eiswuerfeln gesessen hat, ich erschrecke mich und schuettele sie ab: nur eine Wolfsspinne, meint Stephan beruhigend, eine Verwandte der Tarantel, aber die tut ja nichts. Aha. Weiss das auch die Spinne?

Weitere 2 Stunden spaeter: Mit Cubra libre ist vieles leichter zu ertragen, vor mir steht mein fuenftes Glas. Trotzdem halte ich bei der heutigen Skatrunde halbwegs tapfer durch und verliere nicht ganz so haushoch wie sonst. Versoehnt mit mir und meiner (fuer meinen Geschmack ein bisschen zu lebendigen) Umwelt beschliesse ich den Abend. Ich bin nicht betrunken, aber ich habe meinen Sinn fuer skurrile Situationen wiedergefunden, und mit ihm auch meine Bereitschaft, mein Essen mit Ameisen zu teilen, mein Bett mit Floehen und mein Blut mit Muecken. Schliesslich sind wir ja Voluntaere in einem Oekologie-Projekt und haben hier eine Mission zu erfuellen:
Unterwegs im Auftrag des Artenschutzes...




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17th November 2009

Härrrlisch!
Oh Alex, liebstes Fusselchen - dein Humor und die Fähigkeit, diesen auch noch in Schriftform zu teilen - über Tausende von Kilometern und Seemeilen hinweg - das bringt Sonnenschein und Wärme in den dunklen Novemberabend - ein irres Kichern produziere ich hier auch beim Gedanken an "Coleoptera Ragout" Leben ist lebendig - bei dir sehr sehr fühlbar! Danke dafür!
18th November 2009

Reiseführer
Hallo ALex, ich liebe es deine Berichte zu lesen. Tag für Tag schaue ich was es neues bei dir gibt und grad der letzte Beitrag hat ein tolle Kopfkino erzeugt ;-) Ein Skorpion als Tischnachbar........mmmmuaaahhhhhh ;-) Halt ddie Ohren steif und vielen Dank, das du uns an deiner Reise teilhaben lässt! Alles Liebe Salti

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